Kein Zuckerschlecken (26/08/18)
“Mama, ich bin so fett geworden!” Ich stehe auf den Zehenspitzen vor dem
Spiegel in meinem Zimmer und ziehe den Bauch ein. Meine Mutter schaut mich
entgeistert, dann fast böse an. „Du bist 1,64m groß und wiegst 60kg. Wo bitte
sollst du denn fett sein?“ „Na hier, am Bauch. Außerdem, ist mir doch egal, wie
viel ich wiege.“ „Naja, dann iss einfach weniger Ben&Jerrys, wenn du dich
so unwohl fühlst.“
Essstörungen sind ernst zu nehmende psychosomatische Erkrankungen, die
durch schwere Störungen des Essverhaltens gekennzeichnet sind.
So, oder so ähnlich hat es angefangen. Ich war 16, als ich das erste Mal
wochenlang keinen Zucker aß. Kein Brot, keine Nudeln, kein Reis, kein
Nachtisch, gar nichts. Es war die Hölle – und ich nahm ab. Ich konnte es
kontrollieren, was ich aß, wann ich aß, ob ich aß. Letzteres wurde zum Problem.
Denn ich aß immer seltener. Bis ich es gar nicht mehr tat. Ich hab mich stark
gefühlt, so unendlich stark. Ich hatte die Macht über meinen Körper, meine
Bedürfnisse. Nur vier Wochen, hatte ich mir gesagt, nach fünf Wochen brach ich
ab. Ich hatte sechs Kilo verloren und den Spaß am Essen auch. Seitdem ist es ein
Kampf.
Ich betrachte mich im Spiegel, drehe mich, stell mich auf die Zehenspitzen,
ziehe den Bauch ein, kneife mir in die Seite. Ich fühle mich eklig. Angewidert
schließe ich die Augen, taste mit der Hand von meinem Brustbein aus am
Schlüsselbein entlang, stelle fest, dass ich es deutlich fühlen kann, also noch
nicht alles verloren ist. Ich habe gestern einen Muffin gegessen, einfach, weil
er so lecker war. Und jetzt kann ich mich nicht mehr im Spiegel ansehen. Ich
schäme mich für meinen Ausrutscher, ein unverzeihlicher Fehler. „Mach die Augen
auf, schau dir an, was du getan hast,“ schreit mich die Stimme in meinem Kopf
an. „UNNÖTIG, DIESER MUFFIN WAR UNNÖTIG,“ schreit es weiter. Ich halte mir die
Ohren zu, während mir die Tränen über die Wangen laufen. „Es tut mir leid,“
flüstere ich meinem nackten Spiegelbild zu.
Essstörungen können ernsthafte und langfristige gesundheitliche Schäden
nach sich ziehen.
Er schaut mich aus verschlafenen Augen an, lächelt und fragt: „was denkst
du gerade?“
„Du bist stark! Du hast die Kontrolle!
Du hast keinen Hunger! Trink mehr Wasser, das füllt den Magen auch!“
schreit es in meinem Kopf, so laut, dass ich glaube, selbst seine Mitbewohner
könnten es hören. „Wie schön es ist, neben dir aufzuwachen.“ Sage ich
stattdessen und meine es auch so. Heute ist ein guter Tag, mein Bein über der
Decke sieht in dem Halbdunkel des Morgens gar nicht so fett aus wie sonst, ich
konnte unter der Decke drei Rippen fühlen. „Bleibst du zum Frühstück?“ er
streckt die Arme nach mir aus.“ Als ich
das letzte Mal nur Kaffee getrunken und das duftende Croissant vor mir
ignoriert hab, war er beleidigt,“ erinnert mich meine innere
Kampfpatrouille gegen Essen mahnend. Sie merkt es immer als erste, wenn ich
kurz davorstehe, schwach zu werden. Ich schüttle den Kopf: „Entschuldige, ich
muss zum Sport, ich hab‘s versprochen.“ Er wirkt enttäuscht, legt den Kopf
schief, streicht über meinen Rücken, versucht, mich wieder zu sich zu ziehen.
„Lass den Sport doch heute mal ausfallen und bleib noch eine Weile bei mir. Wir
sehen uns kaum noch.“ „Wenn du den Sport
heute weglässt, kannst du das Abendbrot vergessen und du musst heute essen,
deine Mutter ist zu Hause!“ brüllt es in meinem Kopf. „Tut mir leid, ich
muss los.“ Ich winde mich aus seinem Arm, ohne ihn anzusehen, greife nach
meiner Kleidung neben dem Bett. Als ich aufsehe, spiegele ich mich in der Tür
seines Schranks und ekele mich an. Nicht nur mein Aussehen finde ich abstoßend,
mein Verhalten jetzt auch.
Der zentrale Punkt einer Essstörung ist die ständige gedankliche und
emotionale Beschäftigung mit dem Thema Essen.
Ja verdammt, ich würde gern einfach essen können, so wie du. Ohne darüber
nachzudenken. Was ich esse, wann ich esse, ob ich esse. Ich wäre gern zufrieden
mit meinem Körper, würde gern glauben können, was du mir sagst. Ich weiß um die
Probleme, kenne die Gefahr und kann es trotzdem nicht lassen. Ich glaub, das
nennt sich Zwang…
Es mag sein, dass mein Körper für dich nicht wie ein Problem aussieht,
nicht wie etwas, worum ich mich sorgen müsste. Ich mach mir auch nicht wirklich
Sorgen um meinen Körper, sondern eher um mich, nackt. Denn genau das kann ich
nicht. Ich hab nicht die Stärke, mich vollkommen nackt zu zeigen, weil ich mich
schäme, mich ekle, mich selbst nicht schön finde, egal was du sagst. Ich esse
nicht, um mich akzeptieren zu können, denn jetzt fehlt mir die Kraft dazu, die
Fähigkeit, die Stärke, mich anzunehmen, mich und meinen Körper zu lieben.
Das alles denke ich, wenn einer meiner Freunde abends beim Grillen, sich
einen Kommentar verkneifend, fragend die Augenbrauen hochzieht, wenn ich sein
Angebot zum Probieren seines Steaks ablehne. Das alles denke ich, wenn um mich
herum meine Freundinnen entspannt im Bikini im Park liegen und Kuchen essen und
ich mein T-shirt anbehalte.
Am Schlimmsten aber ist es, von einem Bekannten zum Essen eingeladen zu
werden..
„Du isst nicht? Wie, du isst nicht? Bist du verrückt geworden?“ Ja
verdammt, ich bin verrückt geworden, weil ich tatsächlich dachte, ich könnte
mich irgendwann mal dauerhaft schön finden, irgendwann mal zwanglos gegenüber
dem Thema Essen sein, irgendwann mal glücklich sein, mich schön finden, dir das
glauben. Du hast aus dem Nichts die richtigen Fragen gestellt, mich damit
bloßgestellt. Was vor dir verbergen kann ich nicht, nicht wenn du mich einfach
so nackt machst. Versteh mich nicht falsch, ich wollte das auch, fand das auch
gut, wusste nur nicht, wie viel du dann sehen kannst. Es war mehr als gedacht.
Willst du das wirklich essen? Du könntest jetzt auch einfach schlafen
gehen, dann musst du nichts mehr essen, überlegs dir. Du wirst dich morgen früh
so gut fühlen, so leer, so leicht.. Du hast doch gesagt, du willst abnehmen,
dann gib dir auch Mühe. Von nichts kommt nichts. Du schüttelst doch selbst den
Kopf über Menschen, die dünner sein wollen und dann doch den Kuchen essen, oder
Brot zum Frühstück oder Alkohol am Abend. Also lass das Abendbrot weg, es
hilft. Trink heißes Wasser, das beruhigt!
Ich weiß, wie kaputt ich mich anhöre. Wie verrückt und irrational diese
Krankheit auf dich wirken muss. Ich würde gern sagen, ich hab das im Griff,
weil ich nicht Nichts esse, weil ich nicht irgendwann verschwinden will, weil
ich so viel über diese Krankheit weiß. Und ich weiß auch, dass es Schlimmeres
gibt in dieser Welt. Den Nah-Ost-Konflikt. Dass unschuldige Menschen sterben
müssen, zum Beispiel. Und dass alle 3 Minuten ein Kind an Unterernährung stirbt
und ich mir das Essen mit voller Absicht verbiete. Ich weiß, wie dumm das ist,
wie wenig verständlich. Aber es vergeht kein Tag, an dem ich nicht ans Essen
denke und an meinen Körper.
Und ich würde die Schuld für meine Gedanken, für meinen Zwang, gern von mir
wegschieben. Auf die Gesellschaft vielleicht, auf die Modeindustrie, durch
deren Förderung des Magermodel-Wahns. Und dass sich auf Instagram immer nur
jeder von seiner besten Seite zeigt. Am besten im Stehen von leicht unten
fotografiert, damit die Beine länger und schlanker sind. Und dass es wohl am Ende
doch an mir und meinem Spiegel und den Kameras liegt, die meine perfekten
Seiten einfach nicht hervorheben wollen.
Ich würde so gern meine Perfektion loslassen. Würde gern nachts einfach so
was bei Fritz Mitte essen, ohne mich zu hassen. Würde gern das Bier trinken,
weil wir eben gerade flunken, ohne gedanklich schon die 8 Kilometer zu rennen,
die dafür am nächsten Morgen anfallen.
Ich würde gern sagen, ich hab es im Griff, aber die Krankheit lässt mich
nicht.
Das Leben mit dieser Krankheit ist kein Zuckerschlecken. Wirklich nicht!
Kommentare
Kommentar veröffentlichen