See aus Eis

 “Warum bist du so ernst? Ich hab das Gefühl, ich komme gar nicht an dich ran.“ Er nimmt mein Gesicht in seine Hände, sieht mich an, wie so oft. Halte die Luft an. Will mich abwenden, scheitere daran. Schließe nur die Augen. Ich hab Angst, dass er zu viel sehen könnte, in mir zu viel sehen könnte, am Ende. Ich mich verschwende dabei.

„Was denkst du?“ fragt er mich.

Mir schießt so vieles gleichzeitig durch den Kopf, stößt mit lautem Krachen gegeneinander, sodass ich glaube, dass ich doch eigentlich gar nicht antworten muss, damit er weiß, dass ich zu viel denke, um es in Worte fassen zu können. Er schaut abwartend – erwartend – ob einer Antwort.

Manchmal sitzt du einfach nur da und redest, über Dinge, die ich in dir angestoßen habe. Und du siehst so schön aus dabei. Die Veränderungen in deinem Gesicht, die plötzlich auftauchende Wichtigkeit in deiner Stimme, wenn du von Dingen redest, die dich berühren. Die Ernsthaftigkeit deiner Hände dabei. Die Wärme in deinen Augen, wenn du dir selbst zuhörst und dabei etwas Neues lernst. Oder wenn du mich anschaust. Dann ist da so ein Lächeln. Ein wenig Unsicherheit, gemischt mit Glück.

Manchmal sitzen wir einfach nur da, schauen uns an, ergründen den Grund unseres Schweigens. Du, mit dem Wunsch nach Ungestörtheit, nach Präsenz, nach unverfrorener Nähe, Gefühl. Und ich. Gerade so, wackelnd, balancierend über der Tiefe, wenn das Eis taut.

Und du fragst mich, was ich denke.

Verstehst du, ich taste mich langsam voran, schlage Hände erst weg, bevor ich sie anfassen kann, bevor ich es fassen kann, dass ich mich an ihnen festhalten kann.

Und ich komm dir so nah, wie ich will. So nah, wie ich gerade kann. Ich hab Angst, dir zu schnell zu geben, was ich noch gar nicht geben kann. Meine Verwundbarkeit, die Nähe, die du in meinen Augen suchst, in meinen Lippen findest, die betrunken viel zu viele Dinge laut aussprechen, weil sie sich davon Dämm-Material für meine innere Leere versprechen.

Verletzlichkeit anzuerkennen ist so viel schwieriger, als sie zu verdrängen. Abzudrängen aus Gedanken, Worten und Verhalten. Mit geballten Waffen und Fäusten und Drängen dagegen zu halten. Verletzlichkeit überspielen, vergraulen, zynisch, lautstark wegpöbeln, auslachen, sich von ihr abschotten - leichter als ihr ins Gesicht zu schauen. Unbewusst vielleicht am Anfang, aber ich hab Angst, dass du zu viel sehen könntest, am Ende. Also heb ich abwehrend die Hände, stoße weg. Verletzlichkeit ist, was ich ausblende, überblende mit Zynismus, aber auch irgendwie überschatte damit. Vor- und Nachteil in einem. Stark und Schwach zugleich.

Angst davor, nicht angenommen zu werden, bekämpft durch Kälte, die unnahbar macht, wenn man irgendwie zu nah für Distanz ist.

Ich hab Angst.

Nähe ist ein so hoher Preis, den ich nur in Cents bezahle, niemals ganz, glaub ich. Nähe ist Reibungsfläche oder Schmirgelpapier. Bietet Drahtseil und Risiko, Kunst und Verletzung gleichermaßen. Es ist Höhenrausch und Hochspannung in einem. Das Seil kann reißen. Was, wenn wir fallen? Mit dem Gesicht voran, der Fall so lang und tief, sodass wir sehen, was wir verlieren?

Und du fragst mich, woran ich denke.

Ich denke, dass die Kälte mich krankmachen wird. Dass sie in den falschen Momenten Eis über uns werfen wird, schwer wie eine Decke und dann auch die letzte Flamme erstickt. Was überlebt eher, Härte oder Verletzlichkeit? Kälte konserviert. Ja, meine kalten Hände drängen zurück. Aber sie schützen nur davor, am Ende zerbrochenes Glas aufzuheben. Denn das zerspringt meist unter Druck.

„Oh man, fragst du sowas wirklich?“ schnaube ich, statt ehrlich zu sein. Und für den Moment find ich es richtig so, okay, so zu sein. Und im Hintergrund höre ich schon ein leises Knacken. Dinge, die in die Brüche gehen. Meine Antwort ist ein Frösteln auf deiner Haut. Ich würde die Kälte so gern ziehen lassen, daran glauben, dass es mir ohne besser geht. Aber weißt du, was passiert, wenn das Eis dünner wird? Wir brechen ein. Und auseinander. Und darunter ist dann jede Menge dunkle Tiefe. Das Eis hält mich an der Oberfläche. Bewahrt mich davor, nicht zu wissen, was kommt. Davor, unterzugehen in zu viel Nähe. Mich darin zu verlieren.

Und du fragst mich, was ich denke.

Deine Hände, warm auf meinem Gesicht. Deine Frage ist so viel mehr, nicht wahr? Eine Einladung, zum Bleiben.

Das hier ist ein Langstreckenlauf für mich, kein Sprint. Etwas in mir aber wünscht sich zu rennen. Egal wohin, nur so schnell wie möglich ankommen. Irgendwie runter zu kommen von diesem See aus Eis, auf dem ich balancierend das Gleichgewicht halte.

Ich schaue dich an, dann aus dem Fenster. Draußen regnet es. Ich sage nichts und gehe.

Und der Regen wird zu Schnee.

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