04/12/18
Erwartungen
Und dann sind wir erst mittags
aufgewacht, aber ohne schlechtes Gewissen. Und dann haben wir den ganzen Tag im
Bett verbracht, Karten gespielt, gelacht, normal, was man eben ohne Zeitdruck
und anderen Stress so macht. Hab mich so wohl, so frei und losgelöst gefühlt.
Im Allgemeinen sitzen wir alle einfach viel zu selten einfach so mal herum,
denken nicht an Abgabefristen, den Job, die Rechnungen draußen im Briefkasten
und dass der Monat noch so verdammt lang und die Zahl am Ende des Kontoauszugs
viel zu kurz dafür ist. Haben immer die Tage abgezählt, bis doch endlich die
Schule, die ersten 18 Jahre, die Unselbstständigkeit vorbei und wir irgendwie
erwachsen sind. Dass wir allein wohnen, Pizza zum Frühstück essen und
unvernünftige, irgendwie unnötige Dinge kaufen können. Ohne Rechenschaft. Und
dann sind wir aus der Schule raus, stolpern fast ausversehen weiter in
irgendein Studienfach, das uns meistens nur so mäßig reizt und viel zu oft viel
zu früh und viel zu stressend aus dem Bett quält. Wir wohnen dann zwar in
unseren eigenen Wohnungen, aber nutzen das viel zu selten so richtig aus. Die
erhofften Wg-Partys jede zweite Nacht sind meistens dann doch Spiele-Abende und
frühes ins-Bett-gehen, weil alle um 8 in die Bib wollen. Auf Dauer ist der
ganze Alkohol ja auch echt ganz schön teuer und dann gibt`s heute wieder Nudeln
mit Soße. Und morgen auch nochmal, weil eins von beiden noch übrig ist. Und
dann ziehen die meisten Freunde weg, weil sie auch mal rauskommen wollen, in
die nächst größere Stadt, zusammen mit den ganzen Anderen aus dem Jahrgang. Und
man selbst beginnt sich zu fragen, wie aufregend das Leben ja scheinbar nicht
ist, wenn man seine Heimatstadt so sehr liebt, dass man da bleiben möchte. Und
ob das überhaupt in Ordnung geht, da zu studieren, wo man aufgewachsen ist. Und
ob die nächst größere Stadt nicht doch irgendwie aufregend ist. So mehr als nur
mal zu Besuch. Hab ich mir eigentlich nicht mehr erwartet von meinem Leben,
mehr Inhalt, mehr Aufregung, mehr spektakuläre Erlebnisse? Immerhin bin ich ja
auch schon 20. Früher dachte man immer, danach würde gar nichts mehr passieren.
Und jetzt bin ich der Meinung, dass erst jetzt so richtig was passieren kann.
Weil ich gehe einfach nicht zur Uni. Und buche mir ein Ticket nach New York,
ohne Rückflug. Und vielleicht will ich jede zweite Nacht feiern und auf die
Dächer von irgendwelchen alten Fabriken steigen, mir da oben eine
Blasenentzündung holen und es kein bisschen bereuen, weil ich glaube, dass das
irgendwie dazu gehört. Vielleicht komm ich ja doch nochmal raus und wenn nicht,
dann lebe ich in meiner wunderschönen Heimatstadt. Aber dann in einer Wohnung mit
Dachterrasse, in der ich jede zweite Nacht Partys feier und die Nächte
dazwischen Spiele-Abende veranstalte. Und vielleicht sind meine Träume gar nicht
so unrealistisch und vielleicht verlieren nur die anderen den Kontakt zu den
Leuten, die wegziehen, aber wir schaffen das. Aber wir machen das besser.
Die Zeit zwischen Schule und eigenem
Leben ist so kompliziert, weil man das Gefühl hat, jetzt ausschließlich für
sich zu leben und wenn man etwas tut, dann nur für sich selbst. Also sollte es
sich irgendwie gut anfühlen, damit man sich selbst nicht enttäuscht. Man ist
dann selbst dafür verantwortlich, dass man glücklich mit seinem Lebensinhalt
ist. Wer kann solche Entscheidungen denn entspannt und mit vollkommener
Gewissheit treffen? Woher soll ich denn wissen, ob es mir bessergeht, wenn ich
ans andere Ende der Republik ziehe, nur um mal andere Großstadtluft zu
schnuppern? Woher soll ich wissen, ob es mir bessergeht, wenn ich das eine
studiere? Woher soll ich wissen, ob es mir mit diesem Leben bessergeht, das ich
immer in meiner Vorstellung kreiert habe, als ich 14 war und dachte, dass ich
nach der Schule ausgezogen bin und einen genauen Plan habe? Ober ob es mir
nicht mit dem Leben bessergeht, das ich gerade führe, auch wenn es etwas
planlos ist? In dem ich nicht jede Nacht Partys feier, etwas Aufregendes
erlebe, ausgezogen bin und perfekt Autofahren und Rechnungen bezahlen kann.
Dafür aber einfach mal ohne Druck bis mittags schlafen und dann den ganzen Tag
mit Freunden im Bett Karten spielen und das Leben weniger ernst nehmen kann?
Und dann mit ihnen auf dem Dach einer Fabrik krank werde und jede einzelne
Sekunde genieße? Was, wenn ich zwischendurch so viel Spaß an einem nicht so aufregenden
Leben habe, dass ich den Druck vergessen kann, dass wir alle nur einmal leben und
jeden Tag ausnutzen sollen? Ich will glücklich sein mit dem Leben, das ich
jetzt gerade führe, auch wenn mein 14-jähriges Ich schwer enttäuscht von mir
wäre. Gott sei dank bin ich nicht mehr 14. Ich lerne gerade, dass es in Ordnung
ist, Erwartungen auch einfach mal Erwartungen sein zu lassen und sie nicht
erfüllen zu müssen.
Es ist einfach, mit sich selbst, seinen
Entscheidungen und seinem Leben hart ins Gericht zu gehen. Leichter, als
zufrieden zu sein für den Moment und es hinzunehmen, dass man eben nicht der
ist, der jede Nacht feiern geht, bis es hell wird und Steuererklärungen
versteht oder weiß, ab wann und wie man die überhaupt zur Hölle machen soll. Es
ist leichter, enttäuscht davon zu sein, noch keine wirkliche Richtung eingeschlagen
zu haben und Angst zu haben, dass es irgendwie nicht reicht oder schiefgehen
könnte. Optimismus ist schwer zu erfüllen, wenn man jede Menge Erwartungen
nicht erfüllt.
Vielleicht müssen wir verstehen, dass
sich unsere Erwartungen verändern sollten, wenn wir uns und unser Leben
verändern. Dass es nämlich mal okay ist, bis mittags zu schlafen, Karten zu spielen
bis es dunkel wird, ohne schlechtes Gewissen, einen Liter Eis zu essen und
nicht zu wissen, was… naja, manches einfach nicht zu wissen. Eigentlich ist das
nämlich wirklich einfach okay. Entgegen der Erwartungen.
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