„Wir machen unseren Abschluss. Das und nichts Anderes wird passieren.“ (11/03/2018)


Es ist eine dieser Samstag-Abend-Hände-Hoch-Wochenende-Partys, bei denen eigentlich gar nichts so richtig konkret gefeiert wird. Meist treffen wir uns bei irgendwem zu Hause, anfangs in kleiner Runde in der Küche, nach Stunden und Bier dann überall in den Wohnungen, dem Balkon als zentraler Treffpunkt, sollte man sich mal verlieren. Auf dem Boden sitzend wird zwischen halbleeren Das-ist-kein-Bier-Sternburg-Flaschen Wizard gespielt, manchmal auch mit Whiskey und Rotwein und ganz viel gespieltem Intellekt. Unsere Runde ist konstant – nach 19 Jahren stehe ich tatsächlich inmitten eines festen Freundeskreises – meiner Schulklasse. 5 Wochen vor unserem Abschluss scheint es so, als haben wir uns endlich eingestanden, wie sehr wir uns alle mögen. Mit keinen anderen Menschen teilen wir mehr Erinnerungen oder haben wir mehr Zeit verbracht, die ersten Jahre definitiv sehr unfreiwillig. Rückblickend ist es faszinierend, zu sehen, wie Fremde zu Freunden werden können. Gespieltes gegenseitiges Anpöbeln aus dem Flur holt mich zurück auf die Party. Ich gehe auf den Balkon – ich rauche nicht. Drei Leute unterhalten sich über Politik, ich lehne mich neben Josef an die Balustrade und sehe dem Rauch zu, den er ausatmet und der sich unglaublich schnell in der Dunkelheit verteilt, dann verliert. Er schaut mich an und sagt: „in zwei Wochen ist der ganze Mist wirklich vorbei. Ich fass es nicht.“ Ich nicke, dann schüttle ich den Kopf. „Kannst du das glauben? Dass wir dann wirklich ein Leben haben, ohne diese Fünf-Tage-Woche mit den ganzen Idioten? Eigentlich wirkt das Ende der Schulzeit immer noch so weit weg, so nicht fassbar und doch bekommen wir in wenigen Wochen unser letztes Zeugnis.“ Wir schweigen eine Weile und schauen durch die Tür ins Innere der Wohnung, in der inzwischen getanzt wird. Mit jedem einzelnen dieser Menschen in dem Raum habe ich Momente geteilt, diskutiert, Nerven verloren und lauthals gelacht. Und das über acht bis elf Jahre hinweg. Josef legt den Arm um mich, wie er es schon so oft getan hat, wenn wir einen Augenblick genau das Gleiche gedacht haben. Ich lehne mich an seine Schulter, werde das alles so sehr vermissen. „Ich frage mich, wo wir alle in 20 Jahren sein werden. Schaffen wir es, das alles hier nicht einfach zu verlieren, wenn wir gemeinsam feiern, unseren Abschluss zu haben?“ fragt er mich. „Ich hoffe es. Das alles hier ist zu viel wert, als dass wir es einfach achtlos fallen lassen können, glaube ich.“  Als Josef sich die nächste Zigarette ansteckt, spreche ich aus, was ich schon so oft in letzter Zeit gedacht habe: „Ich wünschte, alles würde langsamer passieren. Oder nur nicht so schnell vergehen. Ich wünschte, wir würden noch eine Weile genau an diesem Punkt sein. Die Zeit gemeinsam mit viel offeneren Augen genießen. Jeder freut sich, diesen verdammten Abschluss endlich gemacht zu haben, entspannen zu können. Und trotzdem hätte ich so gern noch ein wenig mehr Zeit. Zeit zum Abschiednehmen.“ Josef atmet aus, teilt für einen Augenblick die Luft damit und nickt. Gott, wie schön kann Melancholie sein? Denke ich.
Ein paar Abende später, auf einer anderen Party in einer anderen Wohnung, führen wir dieses Gespräch so ähnlich in größerer Runde. Ein Freund, der vor Jahren seinen Abschluss gemacht hat, meint zu unserer Unterhaltung nur „Ihr werdet euren Abschluss machen. Das und nichts Anderes wird passieren.“ Hat er Recht? Passiert im Grunde gar nichts so Großes, wie es sich im Moment anfühlt? Ich glaube ja, dass eine ganze Menge passieren wird. Das, was wir in unserer Klasse hatten, das wird in dieser Form niemals wiederkommen. Wir werden uns an allen möglichen Stellen des Lebens wiederfinden, jeder für sich. Neue Bekanntschaften machen, mit neuen Leuten Momente teilen, lachen und diskutieren, auch über Jahrzehnte hinweg. Es erleben, wenn Kollegen zu Freunden werden, aber niemals werden wieder Menschen ständig da sein, die uns aufwachsen sehen, die genauso wenig eine Ahnung haben, wie diese Mathe-Aufgabe lösbar ist und sich gemeinsam über die Buchwahl im Deutschunterricht aufregen. Das mögen belanglose Dinge sein, aber all das hat uns zusammengeschweißt. Ich glaube, es wird viel mehr passieren, als dass wir einfach so unseren Abschluss machen und unserer Wege gehen. Ich glaube, jeder von uns wird seinen Teil aus dieser Klasse mitnehmen – vor allem wunderbare Freundschaften. Und das wird bestehen bleiben. Da bin ich mir sicher. Die Bestandteile des Zigarettenrauchs bleiben schließlich auch bestehen, auch wenn der Rauch sich teilt.

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