Sie - das kleine Mädchen

Vor Kurzem fragt sie mich: "Ist das eigentlich Liebe?" Ich verstand sie nicht auf Anhieb, bis ich auf ein älteres Paar am Tisch neben uns aufmerksam wurde. Die meiste Zeit verbrachten sie schweigend, über ihre Vorspeisen gebeugt, sahen sich manchmal einfach nur ruhig an. Ich beobachtete die Beiden weiter - als der Hauptgang serviert wurde, wartete sie, bis ihr Mann von ihrem Essen probiert hatte, ihr den Salzsstreuer reichte und sagte, sie müsse wohl nachwürzen. Das war für mich der Moment, der mir deutlich machte, das Liebe nicht immer die großen Gesten beinhaltet, sondern vor allem vom kleinsten Detail abhängt.
Dennoch hatte mich ihre Frage stutzig gemacht. Was ist eigentlich Liebe?
Ich bezweifle stark, dass Liebe das ist, was ein vierzehnjähriges Mädchen für den tollen Kerl aus der Straßenbahn empfindet - auch wenn es für sie wohl erstmal das Höchste der Gefühle sein wird.. und auch mit Sicherheit das Ende der Welt, wenn die Schmetterlinge des Verliebtseins dann plötzlich dran glauben mussten, bis zum nächsten großartigen Kerl. Ich glaube auch nicht, dass Liebe Gewohnheit sein sollte. Dass man mit Jemandem zusammen bleibt, weil es so am Einfachsten für beide ist, weil man sich eben kennt, kein unnötiges Risiko eingeht, kein Scheitern riskiert oder schlicht Angst davor hat, schließlich allein zu sein. Während ich so nachdenke, komme ich zu dem Schluss, dass es Sinn macht, was ich hier tue. Wenn man nicht genau weiß, was etwas ist, dann fängt man am Besten damit an, festzustellen, was etwas nicht ist. Das ist in den meisten Fällen das Einfachere. Ich glaube auch nicht, dass Liebe und Verliebtsein zueinander gehören. Sie bedingen einander nicht. Das Eine kann, wenn nötig, ohne das Andere existieren. Verliebtsein ist für mich dieses Kribbeln im ganzen Körper, bei nur einem Blick, das Aufgeregtsein ohne erfindlichen Grund, die plötzliche gute Laune, das Lächeln. Das Interesse. Liebe ist irgendwie größer, schwerer. Bedeutsamer vielleicht. Verliebtsein ist sprunghaft, leicht, nichts festes, nichts, worauf man unbedingt bauen kann. Liebe ist ein Fundament, solide. Verlässlichkeit. Ankommen und bleiben wollen. Ich weiß nicht, ob Liebe langweilig ist. Vielleicht weniger aufregend, als das Neue, das Kennenlernen, der Reiz des Verliebtseins. Genau in diesen Gedanken hinein, stellt sie mir wieder eine sehr schwierige Frage: "Kann ich mehrere Menschen gleichzeitig lieben?" "Auf keinen Fall!" sage ich - ups, da war meine Moral wohl schnellerer Wortführer. Denn gleichzeitig denke ich "Unbedingt!". "Weißt du", setze ich an, "das mit der Liebe ist kompliziert. Denn sie hat so viel mit einem selbst zu tun. Deine Liebe zu anderen Menschen, deine Gefühle und deine Verhältnisse zu Anderen, spiegeln so viel von dir selbst wider, dass du zuerst verstehen musst, was diese Frage für dich bedeutet. Du musst dich fragen, ob du fähig bist, zu lieben. Ob und wie du liebst. Sieh mal, wenn es da zwei Menschen gibt, die unterschiedlicher nicht sein können, du mit jedem von den Beiden aber eine andere Seite von dir selbst ausleben kannst, wenn dich jeder auf seine Art zum Leuchten bringt - warum solltest du dich gegen einen Teil von dir entscheiden? Wenn du so vielschichtig bist, wenn du dich wohl fühlst, dann liebe einfach. Aber zu allererst dich selbst. Denn Liebe hat auch viel mit Schmerzen zu tun, mit Verletzlichkeit und du kannst dich leicht in ihr verlieren. Wenn du jemanden triffst und er haut dich um, dann frag dich nicht "Kann ich das tun?" sondern frag dich zu allererst "Was machst du mit mir? Mag ich mich, wenn ich mit dir zusammen bin?" Wenn du diese zwei Fragen mit einem Lächeln auf den Lippen beantworten kannst, dann sind alle anderen Fragen egal!"
Ich weiß nicht genau, ob ich ihre Fragen beantworten konnte, ob sie mir zugehört hat oder ob das, was ich gesagt habe, überhaupt im Entferntesten einen Sinn ergeben hat - aber sie lächelt jetzt. Und das ist die Hauptsache!

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